Trauer im Spektrum

Trauer im Spektrum

„Dein Kind trauert doch gar nicht, oder?“
Warum Kinder im Spektrum in Abschiedssituationen so oft übersehen werden

Ich kenne diese Fragen – als Trauerbegleiterin, die Familien durch Abschiedssituationen begleitet. Und ich kenne sie als Mutter: Mein Sohn Florian ist Autist. Durch ihn habe ich Trauer im Spektrum noch einmal ganz neu verstanden.

Trauer ist da – sie sieht nur anders aus

Wenn Kinder trauern, erwarten wir bestimmte Bilder: Tränen, Weinen, sich an uns klammern, viel reden – oder ganz still werden.

Bei vielen neurodivergenten Kindern (Autismus, ADHS, andere Neurodivergenzen) sieht das ganz anders aus:

  • Sie wirken nach außen ruhig, fast unbeteiligt – während innen ein Sturm tobt.
  • Sie sind motorisch überdreht, zappelig, laut – weil ihr Nervensystem völlig überlastet ist.
  • Sie starren auf einen Punkt, kneten etwas in der Hand, tippen aufs Handy, wiederholen Bewegungen – und genau das ist ihr Versuch, sich zu regulieren.

Ein typisches Bild aus meiner Arbeit:
Ein Kind sitzt in der Beerdigung und knistert ununterbrochen mit dem Programmheft, wechselt ständig die Position, schaut zwischendurch aufs Handy. Ich sehe dann oft die Blicke der anderen Erwachsenen: „Das gehört sich jetzt aber nicht.“

Später, in einem ruhigen Moment, sagt das Kind vielleicht:
„Es war so laut in meinem Kopf. Ich wusste gar nicht, wohin mit mir.“


Die Sätze, die am meisten wehtun

Immer wieder begegne ich denselben Sätzen von Erwachsenen – in Familien, Schulen, bei Trauerfeiern:

  • „Es scheint ihm ja gar nichts auszumachen.“
  • „Der stört hier nur.“
  • „Die ist völlig überdreht, die nimmt das gar nicht ernst.“

Dahinter steckt selten böser Wille.
Es ist eher die „neurotypische Brille“: Wir sehen das, was wir gelernt haben zu sehen. Wenn ein Kind nicht so trauert, wie wir es kennen, schließen wir schnell: „Dann trauert es wohl nicht.“

Besonders häufig werden autistische Kinder übersehen oder falsch interpretiert:

  • in Gruppenangeboten (Trauergruppen, Schule, Kita),
  • in formellen Ritualen (Beerdigung, Abschiedsfeiern, Gedenkgottesdienste),
  • in Momenten mit vielen Reizen (viele Menschen, Musik, Gerüche, Ansprachen).

Schmerzhaft wird es, wenn wir Stressverhalten bestrafen:
Ein Kind rennt während der Trauerfeier nach draußen, bekommt einen Wutanfall oder macht scheinbar „alberne“ Kommentare – und wird dafür zurechtgewiesen, beschämt oder als „respektlos“ abgestempelt.

Dann bekommt das Kind nicht nur seine Trauer zu tragen, sondern auch noch die Botschaft: „Mit dir stimmt etwas nicht.“


Mein Sohn im Spektrum – und der unsichtbare Rucksack

Als bei meinem Sohn Florian die Diagnose „Autismus-Spektrum“ gestellt wurde, sind viele Situationen in unserem Leben plötzlich in ein anderes Licht gerückt.

Ich habe verstanden:

  • warum Gruppen für ihn so anstrengend sind,
  • warum er nach scheinbar „normalen“ Tagen völlig erschöpft war,
  • warum er sich so schwer tat, zu spüren und auszudrücken, was er braucht.

Ein Bild, das mir hilft – und das ich auch Eltern gern erkläre, ist der unsichtbare Rucksack:

Stell dir vor, dein Kind trägt jeden Tag einen Rucksack, in dem schon alles liegt, was sein Nervensystem belastet:

  • Geräusche, Licht, Gerüche,
  • Blickkontakt, unausgesprochene Regeln, Smalltalk,
  • spontane Änderungen, die es nicht vorhersehen konnte.

Wenn dann noch ein Todesfall, eine Beerdigung, eine gespannte Stimmung in der Familie dazukommen, ist nicht die Trauer selbst das Problem – sondern der Rucksack, der überquillt.

Ein anderes Bild, das Florian und viele andere sehr passend finden, ist der Energie-Balken wie in einem Computerspiel:

Kinder im Spektrum starten den Tag oft nicht bei 100 %, sondern bei vielleicht 50 %. Schon der Schulweg, der Lärm in Kita oder Schule, soziale Situationen kosten enorm Energie.

Kommt dann noch Trauer hinzu (ein Verlust, eine Beerdigung, viele Menschen, starke Gefühle im Raum) ist der Balken schnell auf Null. Dann geht es nicht darum, dass das Kind „keine Lust hat zu trauern“. Es hat schlicht keine Kapazität mehr.

Ich sage Eltern deshalb oft:

„Dein Kind trauert nicht weniger – sein Nervensystem ist nur damit beschäftigt, nicht unterzugehen.“

Das Verhalten, das wir sehen – Rückzug, scheinbare Kälte, Wut, „Albernheit“ – ist dann Notfallstrategie, keine Respektlosigkeit.

Was autistische Kinder in Abschiedssituationen brauchen

Aus meiner Erfahrung lassen sich drei zentrale Bedürfnisse zusammenfassen:

1. Vorhersehbarkeit

Autistische Kinder brauchen eine Idee davon, was sie erwartet:

  • Wo findet die Abschiedssituation statt?
  • Wer wird da sein?
  • Wie lange dauert es ungefähr?
  • Darf ich rausgehen, wenn es mir zu viel wird?
  • Wer ist dann bei mir?

Das kann durch eine einfache Bild- oder Textabfolge geschehen:

„Wir fahren zur Kirche.
Wir setzen uns in die Bank.
Jemand erzählt etwas über Opa.
Jemand singt ein Lied.
Wir gehen zum Grab.
Dann fahren wir wieder nach Hause.“

Schon das Wissen um den Ablauf senkt bei vielen Kindern im Spektrum die innere Anspannung.

2. Reizschutz

Abschiede sind selten leise: Viele Menschen, Musik, Gerüche, Umarmungen, weinende Gesichter, ungewohnte Räume.

Hilfreich sind:

  • ein ruhiger Rückzugsort in der Nähe,
  • Noise-Cancelling-Kopfhörer oder Ohrstöpsel,
  • vertraute Gegenstände (Kuscheltier, Trost-Tiger, Lieblingsdecke),
  • eine vereinbarte Ausstiegs-Option („Du darfst jederzeit mit Papa/Mama/Onkel/Tante rausgehen.“).

Allein das Wissen: „Ich darf gehen, wenn es mir zu viel wird“ kann der erste Trost sein.

3. Klare Sprache

Sätze wie „Opa ist eingeschlafen“ oder „Oma ist jetzt woanders“ verwirren viele Kinder – besonders im Spektrum, die Sprache oft wörtlich nehmen.

Hilfreicher sind klare, einfache Sätze:

„Opa ist gestorben. Sein Körper funktioniert nicht mehr.
Er kann nicht mehr atmen, essen, sprechen oder aufwachen.
Wir können ihn aber im Herzen und in unseren Erinnerungen behalten.“

Klarheit ist kein Mangel an Trost – sie ist ein grundlegender Teil davon.


Als der Rahmen passte und die Trauer sichtbar wurde

Ein Beispiel aus meiner Arbeit, das mir sehr im Gedächtnis geblieben ist:

Leon, ein 12jähriger Junge im Spektrum hatte seinen Opa verloren. Die Familie hoffte darauf, dass er bei der Beerdigung „nicht unangenehm auffällt“.
Ich habe vorgeschlagen, ihm:

  • eine klare Aufgabe,
  • eine Ausweichmöglichkeit
  • und ein Symbol mitzugeben.

Wir vereinbarten:

  • Er darf die Kerze am Foto seines Opas anzünden.
  • Wenn es ihm zu viel wird, darf er mit Kopfhörern und dem Trost-Tiger gemeinsam mit einer vertrauten Person vor die Tür gehen.

Als er nach vorne ging, um die Kerze anzuzünden, stand er ganz still. Später sagte er:

„Jetzt brennt meine Kerze für Opa.“

Es gab keine dramatische Szene, keine lauten Tränen.
Und doch war das ein sehr klarer, sehr echter Abschied.


Musik und Trost-Tiger – eine andere Sprache für Gefühle

In meiner Arbeit erlebe ich immer wieder, wie Sprache an ihre Grenzen kommt – besonders bei autistischen Kindern.

Sie sagen dann Sätze wie:

  • „Ich weiß nicht, wie es mir geht.“
  • „Es ist zu viel in mir.“
  • oder sie sagen gar nichts mehr.

In solchen Momenten wird Musik für mich zu einer zweiten Sprache.

Wenn ich singe, müssen Kinder niemandem in die Augen schauen, nichts erklären, nicht „funktionieren“. Die Melodie trägt auch dann, wenn Worte nicht durchdringen.

Der Trost-Tiger ist dabei wie ein Anker: etwas zum Festhalten, Drücken, Verstecken, Anschauen.

Manche Kinder nutzen ihn wie einen Übersetzer:
Sie können mir (oder ihren Eltern) nicht sagen, wie sie sich fühlen, aber man sieht, wie sie den Tiger halten, wie sie mit ihm umgehen, ob sie ihn wegschieben oder an sich drücken. Der Trost-Tiger wird zu dem, was viele autistische Kinder brauchen:
Eine Beziehung ohne Blickzwang, ohne Gesprächszwang, ohne Bewertung.

Was du als Mutter oder Vater ganz konkret tun kannst

Falls du gerade mit einem autistischen Kind durch eine Abschiedssituation gehst – oder dich innerlich darauf vorbereitest –, hier ein paar Anregungen:

  • Sprich klar und ehrlich.
    Kein drumherum, keine „Schlaf“-Metaphern. Klarheit gibt Sicherheit.
  • Bereite dein Kind vor.
    Geh den Ablauf der Trauerfeier gemeinsam durch (am besten visuell/zeichnerisch).
  • Vereinbart ein geheimes Signal oder „Codewort“.
    Wenn es zu viel wird, kann dein Kind dieses Zeichen geben ohne lange erklären zu müssen.
  • Sorge für einen Rückzugsort.
    Ein ruhiger Raum, das Auto, eine Bank vor der Tür. Wichtig ist: Dein Kind weiß, dass dieser Ort erlaubt ist.
  • Erlaubt das Mitnehmen von Hilfen.
    Kopfhörer, Kuscheltier, Trost-Tiger, Knautschball –
    das ist keine „Unhöflichkeit“, sondern Selbstschutz.
  • Nimm „kleine“ Bedürfnisse ernst.
    Manchmal ist „Ich brauche Luft“, „Ich muss auf die Toilette“ oder „Es ist mir zu laut“ der Schlüssel, damit die Situation nicht kippt.
  • Erwarte keine „schöne Trauer“.
    Dein Kind muss nicht so trauern, dass es für andere stimmig aussieht.
    Es darf so trauern, dass es für sein Nervensystem aushaltbar ist.

Und du?

Vielleicht bist du selbst gerade am Limit.
Trauer, Organisation, Geschwisterkinder, Termine, Erschöpfung.
Und dann noch die besondere Begleitung eines Kindes im Spektrum.

Du musst keine perfekte Trauerbegleiterin sein.
Du musst nicht jede Reaktion deines Kindes sofort verstehen.

Es reicht oft, wenn dein Kind spürt:

  • „Du bist nicht falsch, weil du anders reagierst.“
  • „Du musst dich nicht zusammenreißen, damit andere zufrieden sind.“
  • „Ich versuche, dich zu verstehen und ich bleibe an deiner Seite.“

Alles andere können wir gemeinsam lernen.
Mit unseren Kindern.
Tag für Tag, Schritt für Schritt. 🧡

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